Simulationsbasierte stochastische Wirkungsanalyse
Das Spektrum potenziell sicherheitskritischer Situationen für automatisierte und vernetzte Fahrzeuge (AVF) - insbesondere solche, an denen schwächere Verkehrsteilnehmer beteiligt sind - ist viel zu breit, um sie umfassend (in Übereinstimmung mit ISO 26262) allein durch Fahren im Realverkehr oder in kontrollierten Laborumgebungen zu testen. Neben den technischen sind hier vor allem auch ethische Einschränkungen zu berücksichtigen. Diese und ähnliche Herausforderungen können durch virtuelle, randomisierte, kontrollierte Versuche angegangen werden, welche detaillierte und validierte stochastische (Monte-Carlo-) Simulationen verwenden. Virtuelle Versuche können umfassende Datenbanken generieren und die statistische Aussagekraft erreichen, die erforderlich ist, um den hochdimensionalen Raum der Verkehrsszenarien zu untersuchen, der für die Sicherheitsbewertung und die "Stresstests" von AVF erforderlich ist. Die Modellvalidität ist die entscheidende Voraussetzung für virtuelle Tests; daher zielt das vom BMVI geförderte Projekt SAVe, sowie das Folgeprojekt SAVeNoW darauf ab, einen "digitalen Zwilling" für das städtische Straßennetz in Ingolstadt, Deutschland, zu erstellen. Unser Forschungsteam konzentriert sich auf AVF-VRU-Interaktionen an städtischen Kreuzungen; diese Aufgabe erfordert validierte (sub)-mikroskopische Modelle für Dynamik, Kognition und Verhalten (oder gelegentliches "Fehlverhalten") der Verkehrsteilnehmer, einschließlich aller VRU-Kategorien. Als Anwendung wird derzeit das Potenzial für eine verbesserte Kreuzungssicherheit und Zuverlässigkeit von AVF durch Kommunikation mit externen Sensoren (V2X) und Datenfusion in virtuellen Versuchen getestet.
Problemstellung
- Wie können neue Technologien vor ihrer Einführung in den Verkehr objektiv auf ihre (Neben-)Wirkungen hin bewertet werden?
- Die Stichprobengröße im Verkehr, um eine statistische Aussagekraft für die Leistungsbewertung des automatisierten und vernetzten Fahrens (AVF) zu erreichen, ist für Fahrstudien im Realverkehr viel zu groß.
Unser Ansatz: Virtuelle Experimente
- Modellierung der aktuellen (stochastischen) Verkehrsprozesse als Referenz / Baseline.
- Generierung von synthetischen Verkehrsszenarien mittels stochastischer Simulation.
- Synthetisch erzeugte Verteilungen (beispielsweise Unfallzahlen) werden auf Äquivalenz zu realen Daten getestet.
- Integration von AVF-Simulationsmodellen mit quantifizierter Modellvertrauenswürdigkeit in das Verkehrsprozessmodell.
- Erzeugung einer hinreichend großen Stichprobe des veränderten Verkehrsprozesses mittels stochastischer Simulation mit integrierter AVF.
- Evaluierung der Leistungsfähigkeit der Maßnahme im Vergleich zum Referenzverkehrsprozess.
Zentrale Herausforderung: Ursache-Wirkungs-Modelle für manuelle Verkehrsprozesse
- Verkehrsprozesse müssen unter Berücksichtigung stochastischer Variationen im kognitiven und dynamischen Verhalten aller Verkehrsteilnehmer (einschließlich Radfahrern, E-Scootern usw.) modelliert werden.
- Ungewöhnliche Kombinationen der zugrundeliegenden Verteilungen können zu Unfällen führen und müssen daher realistisch modelliert werden, um validierte Bewertungen zu erstellen.
- Modell der Variationen des dynamischen Verhaltens von E-Scooter-Fahrern:
- Einbeziehung von Parametern wie Fähigkeitsniveau, relevante kognitive und perzeptive Merkmale, Dynamik und physische Einschränkungen
- Modelle der menschlichen kognitiven Fähigkeiten:
- Wichtige kausale Faktoren bei Verkehrsunfällen
- Reduzierung der Problemkomplexität durch Modellierung nur der wichtigsten Fehlerprozesse, die zu Verkehrsunfällen führen
Benefit
- Entwicklungsbegleitendes Werkzeug, das zur frühzeitigen Wirkungsanalyse von Technologien auf den Gesamtverkehrskontext eingesetzt werden kann.
- Reduzierung von Fehlentwicklungen aufgrund falsch eingeschätzter (Neben-)Wirkungen im verkehrlichen Gesamtkontext.
- Kontinuierliches kosteneffizientes Feedback über die Leistungsfähigkeit von Technologien ermöglicht iterative Optimierung.
Aktuelle Projekte
SAVeNoW erforscht einen Digitalen Zwilling des urbanen Verkehrs am Beispiel von Ingolstadt, in dem relevante statische Elemente (wie z. B. Straßen, Gebäude, Verkehrs-Infrastruktur, Verkehrsregeln) und dynamische Entitäten (z. B. Verkehrsteilnehmer) sowie Rahmenbedingungen (Tageszeit, Wetter) abgebildet werden. Mithilfe dieses Digitalen Zwillings werden Fragestellungen zur Verkehrseffizienz, -sicherheit, -ökologie und gesellschaftlicher Akzeptanz analysiert und durch Lösungsszenarien mit zugehörigen Maßnahmen beantwortet. Das „Gesamtwerkzeug“ funktioniert in zwei ineinandergreifenden Regelkreisen aus digitalem Testfeld (Reale Stadt) und seiner virtuellen Abbildung als Stadtmodell, welche die o. g. Domänen in Form von „was-wäre-wenn“-Szenarien mit entsprechenden Maßnahmen simuliert und die Maßnahmenwirksamkeit bewertet und optimiert. Basis ist eine IT-technisch umgesetzte Gesamtarchitektur aus Datenerfassung, Prozessierung, Modellbildung, Simulation, Auswertung, Anwendung und Optimierung. Das Gesamtmodell, welches die Regelkreise in Funktion hält und weiterentwickelt, soll gesellschaftlich akzeptiert, betreibbar und wirtschaftlich sein.
Um in den kommenden Jahrzehnten Strategien für die Straßenverkehrssicherheit zu entwickeln und die "Vision Zero" voranzutreiben, wird eine anerkannte und zuverlässige Methode für den Nutzen von Sicherheitsmaßnahmen benötigt. Das Projekt V4Safety wird einen vorausschauenden Rahmen für diese Sicherheitsbewertung entwickeln. Ziel ist, eine Vielzahl von Sicherheitsmaßnahmen berücksichtigen zu können, um sowohl den Beitrag und die Wirkung von Sicherheitstechnologien im Fahrzeug, als auch Infrastrukturlösungen oder neue Verhaltensvorschriften a priori und vergleichend bewerten zu können.
Der avisierte Rahmen umfasst Methoden zur Projektion der Ergebnisse auf künftige Verkehrsszenarien und über EU-Regionen hinweg zur Verwendung durch politische Entscheidungsträger, Behörden und Verbraucherorganisationen.
V4Safety bemüht sich auch um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse von Sicherheitsstudien, indem es nicht nur den Rahmen, sondern auch Leitlinien für dessen Anwendung bereitstellt. Die Leitlinien zeigen, wie relevante Mensch-, Fahrzeug- und Umweltmodelle auszuwählen, zu konfigurieren und zu verknüpfen sind und wie eine Projektion auf verschiedene Regionen in der EU durchzuführen ist. Darüber hinaus werden auch Projektionen für künftige Szenarien ermöglicht, welche Veränderungen im Mobilitätssystem einbeziehen.
Abgeschlossene Projekte
Im Forschungsprojekt SAVe, Teilprojekt "Optimierung von Funktionen den automatisierten Fahrens (OF)" haben die antragstellenden THI Professoren Huber (Testmethoden/Wirksamkeitsanalyse), Botsch (Autonomes Fahren/KI-Methoden) und Facchi (Car2X-Systeme) den ersten Stein zur Erstellung einer prospektiven Wirkungsanalyse für den urbanen Verkehrsraum gesetzt. Das besonders unfallträchtige Szenario Linksabbiegen ohne Vorfahrt wurde für manuellen Verkehr (Referenz) unter Berücksichtigung stochastischer Variationen im Verhalten aller Verkehrsteilnehmer (inkl. Fußgänger, Radfahrer, E-Scooter) modelliert und in der eigens entwickelten Monte-Carlo Simulationsumgebung „THIREKS“ implementiert. Als Behandlungsmaßnahme wurde ein automatisiertes Fahrzeug modelliert und integriert. Die konservative Umfelderfassung rein mit Fahrzeug-interner Sensorik stellt allerdings im innerstädtischen Verkehr durch potentielle Sichtverdeckungen ein Risiko für die Fahrfunktion dar. Daher wurde die Simulation der Umfelderfassung um ein Überkopfsensormodell erweitert, um den Performancegewinn von Infrastrukturmaßnahmen (Car2X) abzuschätzen. In diesem Sinne stellt der Überkopfsensor auch eine Maßnahme dar, deren Wirksamkeit es zu bewerten gilt. Erkenntnisse wurden bereits auf internationalen Fachkonferenzen präsentiert und veröffentlicht.
Veröffentlichungen
- P. Brunner, F. Denk, R. Kates, W. Huber, K. Bogenberger, T. von dem Bussche "An E-Scooter Safety Experiment -Design, Methodolgy and Results", Transportation Research Board, Washington, USA, 2022
- P. Brunner, A. Löcken, F. Denk, R. Kates, W. Huber "Analysis of experimental data on dynamics and behavior of e-scooter riders and applications to the impact of automated driving functions on urban road safety", Intelligent Vehicles Conference, Las Vegas, USA, 2020
- F. Denk, W. Huber, P. Brunner, R. Kates "The role of perceptual failure and degrading processes in urban traffic accidents: a stochastic computational model for virtual experiments", International Conference on Intelligent Transportation Systems (ITSC), Rhodes, Greece, 2020
- P. Brunner, F. Denk, W. Huber, R. Kates "Virtual safety performance assessment for automated driving in complex urban traffic scenarios", International Conference on Intelligent Transportation Systems (ITSC), Auckland, New Zealand, 2019